Lesenswerte Predigt zu Judika, 29.3.2020

Predigt zu Hebräer 13, 12-14 von Pfarrerin Dr. Susanne Ehrhardt-Rein (Evangelische Predigergemeinde Erfurt) an Judika, 29.03.2020

Text nach Martin Luther:
Darum hat auch Jesus, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor. So lasst uns nun zu ihm hinausgehen vor das Lager und seine Schmach tragen. Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.

I. Alles ist abgesagt. Fast alles. Es gibt keinen Gottesdienst an diesem Sonntag. Aber wir können in der Bibel lesen, beten und singen. Wir können auf das sehen, was wir gerade erleben – und wir können auf das Wort hören, das uns in Verbindung bringt, miteinander und mit Gott. Wir gewöhnen uns daran, drin zu bleiben, meistens. Bis auf diejenigen, die ihre Arbeit draußen machen: Krankenschwestern, Müllfahrer, Ärztinnen, Laborassistenten, Lokführer, Verkäuferinnen … Es sind noch viele mehr, die gerade dafür sorgen, dass die wichtigsten Dinge weiterlaufen. Sie geben ihre Zeit und Kraft, oft genug riskieren sie ihre Gesundheit. Sie arbeiten fieberhaft, in den Krankenhäusern, an der Kasse im Supermarkt, bei den Stadtwerken. Andere wären froh, wenn sie arbeiten könnten, auf eigenes Risiko, mit den eigenen Händen. Aber auch das ist momentan abgesagt. Die Unsicherheit macht uns zu schaffen: Wie lange wird das so gehen? Reichen die finanziellen Reserven? Bleibe ich gesund, bleiben meine Liebsten gesund? Und wenn wir krank werden: Wie werden wir die Krankheit überstehen? Und auch: Wie wird unsere Gesellschaft aus dieser Krise hervorgehen?
Es ist wenig, was man tun kann, außer: sich an die Regeln halten, geduldig sein, freundlich mit anderen und sich selbst und: drin bleiben, meistens. Wir lernen gerade noch einmal, wie alle mit allen zusammenhängen. Wie wir aufeinander angewiesen sind, darauf, dass andere rücksichtsvoll und zugewandt sind. Dass andere ihre Zeit und Kraft geben, und auch wie wir für andere sorgen können. Unsere Privilegien werden klar: sauberes Wasser, ein gut funktionierendes Gesundheitssystem, gesicherte Versorgung mit Lebensmitteln, Strom, Heizung. Und auch unsere Verwundbarkeit wird sichtbar: Termine werden sinnlos, Besuche abgesagt, Prüfungen, Feste, Seminare: alles ist nicht so wichtig, wenn Leben bedroht ist. In der Krise kommen unsere Bedürfnisse und Haltungen schärfer zum Vorschein. Das ist auch erschreckend und ernüchternd. Aber es kann uns helfen, genauer zu erkennen: Wer wir sind, was wir brauchen, was uns, als Menschen, ausmacht.

II. Darum hat auch Jesus, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor. Draußen vor dem Tor, vor der Stadtmauer, liegt Golgata, die Hinrichtungsstätte. So war es vor 2000 Jahren in Jerusalem. Blut fließt dort draußen, Schmerzensschreie und Befehle sind zu hören, ein gottverlassener Ort. Dort geht niemand freiwillig hin. Brutal und gewaltsam werden hier Menschen umgebracht, jeden Tag neue Kreuze, neue Hinrichtungen. Dort wurde Jesus von Nazareth gekreuzigt – draußen vor den Toren der Stadt. Dort geschahen die Dinge, die nicht jeder sehen sollte, am Rande der Öffentlichkeit. Jede Stadt hatte damals solche Orte. Jede Stadt hat auch heute solche Orte, draußen, vor dem Tor, manchmal auch hinter Türen, die wir meiden. Orte des Leidens und der Einsamkeit, Orte der Angst und der Gottverlassenheit. Orte voller Krankheit und Leiden. Friedhöfe und Krankenhäuser. Brücken, unter denen obdachlosen Menschen Schutz suchen, Asylbewerberheime, Gefängnisse. Orte, an denen unser gewohntes Leben nicht stattfindet, sondern bedrohtes Leben, gefährdetes Leben. Die Orte da draußen sind Orte des Leidens und des Todes – und sie sind doch Orte des Lebens. Golgata ist nicht nur der Ort der Kreuzigung, es ist der Ort, an dem Jesus Leben gibt. Gott ist an diesem Ort, in diesem Jesus. Der Gott, nach dem Jesus am Kreuz schreit, ist ein Gott, der bei den Leidenden ist, bei den Kranken und Sterbenden, bei denen, die draußen sind.

III. So lasst uns nun zu ihm hinausgehen vor das Lager und seine Schmach tragen. Wir sollen die Sicherheit unserer Innenräume verlassen. Die Ruhe aufgeben, in der man es sich so behaglich und warm einrichten kann. Dazu muss man das Haus gar nicht verlassen. Aber die Gedanken sollen nach draußen gehen. Genau hinsehen, was in der Welt da draußen gerade geschieht. Wir sind in einer Weise alle voneinander abhängig, wie es vielleicht noch nie vorher sichtbar war. Die unberechenbare Krankheit zeigt es uns und sie hält uns alle in Schach. Die Krise setzt uns eine harte Grenze: abhängig, hilflos, machtlos sind wir. Wir sind schon draußen – raus aus der gewohnten Sicherheit, raus aus einer heilen Welt, in der Gesundheit und Leistungsfähigkeit das höchste Gut sind. Wir lernen gerade, dass es keine Garantie gibt. Jede, jeden kann es treffen, niemand weiß, wie die Krankheit dann verläuft. Niemand weiß, wie wir aus der Krise herauskommen.

IV. Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir. Alles, was wir haben und sind, ist vorläufig. Der Glaube an den Gott, der mit Jesus auf Golgata war – dieser Glaube gaukelt uns keine falsche Sicherheit vor. Es wird, wenn wir an diesen Gott in Jesus Christus glauben, nicht einfach alles gut und schön. Er verunsichert, stellt Fragen: Worauf können wir uns verlassen? Was nützt mir mein Wohlstand, wenn ich ihn nicht teile? Wozu hilft mir meine Gesundheit, wenn andere nicht einmal sauberes Wasser haben? Wer opfert sich eigentlich auf dafür, dass ich trotz Krise alles habe, was ich brauche?
Der Glaube an den Gott der Leidenden ist nirgendwo zuhause. Wir haben ihn nicht, wir sollen ihn suchen, an den Orten draußen. Und in unseren eigenen Abhängigkeiten und Unsicherheiten. Wer an diesen Gott glaubt, kann es sich leisten, genau hinzusehen. Gott ist dort, wo wir nicht mehr weiter wissen. Unser Glaube schickt uns auf den Weg und er zeigt uns das Ziel dieses Wanderns: die zukünftige Stadt Gottes, in der wir bei ihm wohnen.

V. Fast alles ist abgesagt. Feste, Gottesdienste, Konzerte, Arbeitstreffen, Seminare. Aber an andere denken ist nicht abgesagt. Anrufen und zuhören ist nicht abgesagt. Nachrichten oder Briefe schreiben und für Nachbarn einkaufen ist nicht abgesagt. Respekt vor denen, die sich aufopfern und bis zum Umfallen arbeiten ist nicht abgesagt und auch nicht die Freude über blühende Bäume und Frühlingswetter. Und Singen am offenen Fenster oder in der leeren Kirche. Und die Sehnsucht nach einem Ort, an dem Gott uns nahe kommt. Der Glaube an diesen guten Ort Gottes, mitten in der Unsicherheit, ist nicht abgesagt. Die Hoffnung auf die zukünftige Wohngemeinschaft mit Gott kommt aus diesem Glauben. Lasst uns davon erzählen, was in der zukünftigen Stadt Gottes auf uns wartet und schon jetzt geschieht.

Und der Frieden Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.